Keine Angst vor dem eigenen Blut

Wie Mädchen in Benin lernen, über die Menstruation zu sprechen.
TEXT: Lara Barbe, Carla Galliker - FOTOS / VIDEOS: Simon B. Opladen

«Wahr oder falsch?», fragt Azouma Orou Sabi Gani die Gruppe Mädchen, die vor ihr sitzt: «Wenn ein Mädchen ihre Regel hat, ist es schmutzig!» «Falsch», schallt es ihr entgegen. «Wenn ein Mädchen ihre Regel hat, darf es nicht kochen!» Hände schnellen hoch, Finger schnippen und aus den Mädchen bricht es heraus: «Falsch!» «Wenn ein Mädchen ihre Regel hat, kann es keinen Sport machen!» Azouma lächelt beim lauten «Falsch» aus der Gruppe. Mit grossen Bildern in der Hand spricht sie an, worüber sonst in diesem Klassenzimmer, aber auch im Dorf sowie in vielen Regionen des Landes nicht geredet wird: den weiblichen Zyklus, die monatlichen Blutungen. Sie sind in Benin vielerorts mit einem Stigma behaftet. Einem Stigma, das Mädchen einen grossen Teil ihrer Freiheit nimmt. In der abgelegenen Dorfschule von Ouagou im Norden des Landes kurz vor der Grenze zu Burkina Faso lernen die Schülerinnen, zwischen Mythen und Wahrheiten über die Menstruation zu unterscheiden. Die 14-jährige Nangnon Orou Zime ist eine von ihnen.

Die Mittagszeit verbringt Nangnon zuhause. Eine gute Gelegenheit, um sich mit ihrer Mutter auszutauschen.

Die verräterische Seife

Nangnon war gerade in der Schule, als ihre Periode zum ersten Mal einsetzte. Sie wusste nicht, wie ihr geschah, war verwirrt und bekam Angst. Niemand hatte ihr jemals davon erzählt – nicht zu Hause und nicht in der Schule. «Ich habe mich geschämt, weil ich Angst hatte, meine Schuluniform schmutzig zu machen», erzählt sie schüchtern, den Blick zu Boden gerichtet. Mit ihren Freundinnen sprach sie nicht darüber, zu gross die Scham, die Unsicherheit. Stattdessen ging sie auf die Toilette, wusch sich und steckte ein Stück Stoff in ihre Unterhose, bevor sie sich endlich nach Hause getraute.

Auch zu Hause wagte Nangnon nicht, ihrer Familie von ihrer ersten Menstruation zu berichten. Doch ihre Mutter bemerkte, dass ihre Tochter eine andere Seife als gewöhnlich benutzte – eine mit einem starken Duft, der den Geruch des Blutes überdecken sollte. Die Mutter erkannte, was geschehen war, und erklärte Nangnon, wie sie in Zukunft ihre Kleidung schützen kann. Mehr sprachen sie nicht über das Thema.

In die Schule zu gehen, war ihr von da an während der Periode unangenehm. Sie hatte Angst, dass das Blut sichtbar würde und dass sich die Jungen über sie lustig machen würden. Mit dieser Angst war sie nicht alleine. Gemäss der Weltbank geht in den Ländern südlich der Sahara durchschnittlich eines von zehn Mädchen nicht in die Schule während ihrer Periode – mit der Folge, dass diese Mädchen 20 Prozent des Schuljahres verpassen.

«Ich habe mich geschämt, weil ich Angst hatte, meine Schuluniform schmutzig zu machen.»

Nangnon Orou Zime, 14, Schülerin

Generationen stigmatisierter Frauen

Nangnon trug fortan das Gefühl in sich, während ihrer Menstruation schmutzig zu sein, denn dies war die allgemeine Vorstellung im Dorf. Sie hatte all die Verbote im Kopf: Dass Mädchen während der Menstruation die lokale Seife aus Asche nicht herstellen dürfen, weil sie unter Umständen misslingt und weggeworfen werden muss. Oder dass es verboten ist, bei gewissen Gebeten mitzumachen. Es sind Vorstellungen, die über Generationen weitergegeben wurden.

Auch Nangnons Mutter Sahadath Karim erinnert sich noch genau an den Tag, an dem sie selber zum ersten Mal ihre Periode bekam. Auch sie hatte sich geschämt. Und wie ihre Tochter, trägt auch sie eine gewisse Scham bis heute in sich. Selbst ihrem Ehemann gegenüber äussert sie sich nur knapp über ihre Menstruation. Sie sage ihm lediglich, dass sie in dieser Zeit nicht intim sein könnten.

Ermutigt vom Austausch, mischt sich Koto Sika Sinaferi, eine ältere Bewohnerin des Dorfes Ouagou – sie könnte Nangnons Grossmutter sein – ins Gespräch ein. Sie weiss, dass in der Schule nun offen über Menstruation gesprochen wird. Sie begrüsst den Spezialunterricht, da sie weiss, dass es um die Gesundheit der Mädchen geht. Früher seien die Mädchen noch viel gehemmter gewesen, da niemand je über die Monatsblutungen geredet habe. Es habe keine Antworten auf ihre Fragen gegeben, erzählt sie mit ihrer starken Stimme. Sie selbst benutzte jeweils ein Stück Baumwolle, um sich zu schützen. Dieses habe sie bis zu zwölf Stunden getragen und es dann heimlich irgendwo vergraben.

Obwohl sie weiss, dass in der Schule heute die Mädchen den weiblichen Zyklus verstehen lernen, und sie das gut findet, fällt es ihr schwer, die einstigen Vorstellungen abzulegen. Sie rät Mädchen weiterhin, während der Menstruation die Sachen von älteren Menschen nicht anzufassen, da diese sonst kaputtgingen. «Man muss glauben, was zu Hause gelehrt wird und was in der Schule gelehrt wird», sagt sie – ohne den Widerspruch zu klären.

Geschlechtergetrennte Toiletten nehmen den Mädchen die Hemmnung, diese während der Menstruation aufzusuchen.

Blaue Schulen schaffen Vertrauensbasis

Regelmässig üben Nangnon und ihre Mitschülerinnen, mit dem Thema freier umzugehen und die Vorurteile zu überwinden. Die Mittagspause ist vorbei; singend und tanzend warten die 30 Mädchen im Klassenzimmer auf den Beginn des Spezialunterrichts. Im Lied rufen sie sich abwechselnd auf, zwischen den Tischen zu tanzen. «Tanzen, Nangnon, tanzen! Wir werden es sehen! Tanzen, Nangnon,  tanzen!» Trotz ihrer Schüchternheit steht Nangnon auf und, zum Gesang ihrer Mitschülerinnen, die mit ihren Händen den Rhythmus klatschen, beginnt sie zur Freude aller einen kleinen, schnellen Tanz. Die Stimmung ist gelöst und der Moment gut, um über ernstere Dinge zu sprechen, als die Kursleiterin Azouma den Raum betritt. Nangnon hat beim Tanzen sichtlich Energie getankt – wie ihre Freundinnen und Schulkolleginnen auch. Energie, die in die Beantwortung der Fragen fliesst, die Azouma stellt: «Wahr oder falsch?»

Die Schule in Ouagou ist eine besondere Schule, eine «école bleue», wie sie Benin genannt wird. Sie bietet Schüler:innen eine gesunde Lernumgebung. Dinge, die Helvetas zusammen mit der Gemeinde in Ouagou eingeführt hat, Dinge, die es vorher hier nicht gab: Das saubere Wasser nicht, den Schulgarten nicht, die nach Geschlechtern getrennten Toiletten und das Hygienewissen nicht.

Seit August 2022 gibt es in der Schule – dank der Unterstützung von Helvetas – einen direkten Zugang zu Trinkwasser, das dank einer Solarpumpe fliesst. Es geht freudig zu und her, wenn die Kinder morgens zum Wasserhahn rennen, um ihr Trinkgefäss aufzufüllen, ihre Hände sorgfältig zu waschen und ihre Behälter zu füllen, damit sie die Gemüsebeete bewässern können.

Im Schulgarten lernen sie, wie sie ohne künstlichen Dünger Gemüse anbauen und ziehen können; in der Schule dann, wie wichtig ausgewogene Ernährung ist. Das Gemüse wird in der Schulkantine verwendet für die Mittagsmahlzeiten. Der Speisesaal wurde im Zuge des Helvetas-Projekts an das Wassersystem angeschlossen und hat nun auch fliessendes Wasser. Was die Kinder in Sachen Hygiene und natürlichem Gemüseanbau lernen, nehmen sie mit nach Hause und bringen es dort Geschwistern und Eltern bei.

Für die Lehrer:innen ist der Unterschied dank des sauberen Wassers augenfällig, heute würden die Kinder nicht mehr krank. Die langjährige Arbeit mit den Gemeindebehörden im Hinblick auf den Bau der Wasserversorgung und der regelmässige Austausch mit der Dorfbevölkerung, also auch den Eltern der Schulkinder, hat ausserdem eine Vertrauensbasis gelegt, die es nun ermöglicht, mit den Schülerinnen auch das eigentlich natürliche, aber immer noch tabuisierte Thema Monatsblutung aufzunehmen.

Früher mussten die Kinder zwei Kilometer gehen, um Wasser für den Schulgarten zu holen. Seit es in der Schule sauberes Wasser gibt, sind die Kinder zudem seltener krank.

Wahrheit aus dem Mund einer Frau

Dafür hat das lokale Helvetas-Team Frauen aus der Gemeinde ausgebildet, darunter Azouma. Sie hatte sich freiwillig gemeldet. «Ich habe mich dafür entschieden, mit den Kindern zu sprechen, damit sie wahre Informationen hören und nicht weiter falsche Geschichten glauben.»

In ihren Lektionen lernen sowohl Mädchen als auch Jungen alles über die Pubertät und die körperlichen Veränderungen während dieser Zeit. Indem sie all das besser verstehen, können sie den Überzeugungen und Tabus rund um diese Themen einfacher entgegentreten. Unterrichtet werden Jungen und Mädchen allerdings getrennt, damit Fragen und Gedanken offen ausgesprochen werden können.

Azouma bringt ihnen bei, dass Mädchen während ihrer Periode alles tun können, was sie wollen: Sport treiben, zur Schule gehen, für alle Essen zubereiten. Sie alle lernen, dass die Menstruation kein Grund für Spott ist und dass Mädchen mit einfachen Mitteln wie dem regelmässigen Wechseln und Waschen der Einlagen, Unannehmlichkeiten vermeiden können. Dass sich drei Generationen, Nangnon, Sahadath und Koto, so öffnen und auch gegenüber Fremden über die Menstruation sprechen, ist Azouma zu verdanken, die bei allen Gesprächen dabei ist und Mut macht.

Beim Spezialunterricht, in Ouagou auch «bildende Plauderei» genannt, geht es mal ernster und mal lockerer zur Sache. Geschätzt werden die Zusatzlektionen sehr.

Aufnahme durch die Gemeinschaft

Es braucht die Gedanken der Mutter von Nangnon, um zu verstehen, wie wichtig offene Diskussion um die Periode von Frauen sind: «Auch ich lerne durch meine Tochter. Ich wünschte, ich hätte schon früher gewusst, dass die Menstruation ein natürliches Phänomen ist und ein Zeichen, dass eine Frau Kinder haben kann. Ich hätte gerne all die Informationen gehabt, die die Mädchen heute in der Schule erhalten.»

Sie selbst hatte sich nicht getraut, ihre Tochter auf den Moment des Übergangs vom Mädchen zur jungen Frau vorzubereiten. In Ouagou wächst inzwischen jedoch eine Generation heran, die zwar nicht öffentlich über die Menstruation und ihre Implikationen für Mädchen und Frauen spricht, aber weiss, worum es sich handelt. Die weiss, dass das Tabu gebrochen, die Mythen und althergebrachten Vorstellungen überwunden werden müssen. Es wächst eine Generation heran, die sich nicht mehr schämt und nicht mehr einschränkt, wenn es mal wieder so weit ist.

Teil dieser Generation ist Nangnon. Auf die Frage, was sie einmal werden will, zögert die sonst so zurückhaltende junge Frau keinen Moment: «Lehrerin!» Am liebsten hier in der Schule. Sollte sie dereinst eine Tochter haben, möchte sie diese schon früh über den weiblichen Zyklus aufklären. Nicht, dass diese dann nicht weiss, wie ihr geschieht. Nicht, dass diese dann Angst haben muss. Nein, das soll ihrer Tochter nie passieren.

 

Das Projekt NimDora in Benin wird hauptsächlich von Stiftungen und öffentlichen Institutionen sowie durch Spenden
finanziert. Hinzu kommen Mittel der Deza.

Kontext Benin: Ein aufstrebendes Land

Benin zählt rund 12 Millionen Einwohner:innen und wurde 2020 von der Weltbank zu einem Land mit niedrigem mittlerem Einkommen hochgestuft. Die demokratisch gewählte Regierung gilt als stabil. Allerdings ist die Sicherheitslage heikel, insbesondere an den nördlichen Grenzen zu Burkina Faso, Niger und Nigeria, wo extremistische Gruppierungen grosse Gewalt ausüben. Über 40% der Menschen in ländlichen Gebieten und gut 30% in den Städten leben in Armut. Die Landflucht ist hoch; die Städte wachsen schnell. 45% der Bevölkerung ist unter 15 Jahre alt, was eine grosse Herausforderung für das Land ist, denn sie alle brauchen Bildung und Gesundheitsversorgung. Ende 2019 hatten nur 54,8% der Kinder eine abgeschlossene Grundschulausbildung. Ein Drittel der Kinder leidet an chronischer Unterernährung und jedes Zehnte ist schwer unterernährt. Bei der Wasserversorgung hat Benin grosse Fortschritte gemacht: Während 2017 lediglich 42% der ländlichen Bevölkerung Zugang zu Trinkwasser hatten, sind es heute 73%. Allerdings fehlt es vielerorts noch an Toiletten, was Krankheiten Vorschub leistet – in einem Land, in welchem gerade mal 4 Ärzt:innen auf 100’000 Einwohner:innen kommen – in der Schweiz sind es 200.