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Verschnaufpause auf der Flucht

In Palanca im Südosten Moldawiens treffen jeden Tag Geflüchtete aus der Ukraine ein. Patrick Rohr hat Ende März vor Ort beobachtet, wie die Hilfe aus der Schweiz ankommt.
TEXT: Patrick Rohr - FOTOS / VIDEOS: Patrick Rohr - 11. April 2022
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Ein dumpfer Knall ertönt. Und gleich noch einer. «Habt ihr das gehört?», fragt Yevgeniya Sgerya sichtlich nervös in die Runde. «Das war wohl der Wind, der am Zelt gerüttelt hat», sagt jemand. «Nein, es kam von weiter her», ruft Yevgeniyas Mutter von draussen ins Zelt, «vielleicht waren es Bomben.» Möglich wäre es, denn nur wenige hundert Meter entfernt von hier, hinter dem langen Zaun, liegt die Ukraine. Dort herrscht Krieg, und man weiss nie, wann und wo die Bomben einschlagen.

Die Bomben kamen immer näher

Bei Familie Sgerya schlugen sie letzte Nacht in nächster Nähe ein, nicht zum ersten Mal in diesem Krieg. Die 46-jährige Yevgeniya wohnt mit ihren fünf Kindern und ihrer zehn Monate alten Enkelin in einem 5000-Seelen-Dorf östlich von Mikolajiw, nahe dem Schwarzen Meer. Als der Krieg am 24. Februar losging, flogen die ersten Raketen auf den Militärflugplatz im Nachbardorf. Am nächsten Tag fiel nach weiteren Explosionen der Strom aus, auch Gas und Wasser gab es irgendwann nicht mehr. Um nicht zu erfrieren, traf man sich am Abend mit den Nachbarn am Lagerfeuer.

Nach zwei Wochen ging es nicht mehr, Yevgeniya bat ihre Kinder, das Nötigste zu packen. Zusammen gingen sie nach Mikolajiw, wo ihre Eltern wohnen. Im Schutz der Grossstadt, so hoffte sie, würden sie sicherer sein. Doch vergangene Nacht fielen gleich neben der Wohnung plötzlich Bomben auf das Turbinenwerk, in dem Yevgeniyas Vater Aleksandr bis vor wenigen Jahren noch gearbeitet hatte. Da beschlossen sie, gemeinsam zu fliehen – am liebsten in die USA, wo sie Verwandte haben, aber erst einmal so schnell wie möglich weg aus der Ukraine. Um sieben Uhr in der Früh bestiegen sie zusammen mit anderen Menschen auf der Flucht einen Bus, vier Stunden später kamen sie beim Grenzübergang von Palanca im Südosten von Moldawien an. Die Angst, von einer Bombe getroffen zu werden, fuhr die ganze Zeit mit.

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Beim Grenzübergang von Palanca im Südosten von Moldawien werden die Flüchtenden am Helvetas-Help Point empfangen und betreut.  © Patrick Rohr

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Ein Ort für Mütter und Menschen mit Behinderung

Jetzt sitzen Yevgeniya und ihre Eltern, die fünf Kinder im Alter von 12 bis 21 Jahren und Enkelin Alisa in einem der Zelte, die von der Deza zur Verfügung gestellt wurden und die Helvetas auf dem Umsteigeplatz in Palanca, etwa vier Kilometer entfernt vom Grenzübergang, aufgestellt hat. Hier versorgen lokale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Geflüchtete mit speziellen Bedürfnissen mit dem Nötigsten: Mütter können geschützt ihre Babys stillen und wickeln, ältere Menschen oder solche mit einer Behinderung werden verpflegt und betreut. So wie der 67-jährige Aleksandr, Yevgeniyas Vater, dem vor ein paar Jahren wegen schwerem Diabetes beide Beine abgenommen werden mussten. Für ihn war die Flucht aus Mikolajiw besonders beschwerlich; er ist froh, kann er hier im Schutz der isolierten und beheizten Zelte einen Moment verschnaufen. Seine 21-jährige Enkelin Viktoria, Yevgeniyas älteste Tochter, die bis am Vorabend ihrem Job als Verkäuferin in einem Supermarkt nachgegangen war, hat soeben das Baby versorgt. Jetzt kann auch sie einen Moment durchatmen. «Zum ersten Mal seit heute früh», sagt sie, und lacht erleichtert.

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Die 21-jährige Viktoria Sgerya versorgt ihre Tochter Alisa im warmen Zelt, das die DEZA zur Verfügung gestellt hat. © Patrick Rohr

Dass Menschen bis zuletzt in ihren Häusern ausharren und nicht schon früher flüchten, kommt häufig vor. Immer wieder würden Geflohene ihr solche Geschichten erzählen, sagt Liuba Mirsa, 28, die die Menschen in einer leuchtend gelben Helvetas-Weste auf dem Umsteigeplatz empfängt. Die Geschichten kommen ihr bekannt vor: Liubov («Liebe»), wie ihr Name eigentlich lautet, ist selbst mit ihren drei Kindern aus der Ukraine nach Moldawien geflüchtet. Sie lebte mit ihrem Partner, einem ukrainischen Drohnen-Video-Produzenten, in einer Kleinstadt in der Nähe von Kiew. Dort waren am 3. März, eine Woche nach Kriegsausbruch, zum ersten Mal die Vibrationen eines nahen Raketeneinschusses zu spüren. Als die Explosionen immer näherkamen, beschloss sie, mit ihren Kindern zu fliehen – nach Palanca, wo Liuba ursprünglich herkommt und ihre Eltern heute noch wohnen. Ihren Freund musste sie zurücklassen: Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren dürfen die Ukraine nicht verlassen; vielleicht werden sie noch für den Krieg gebraucht. «Ich mache mir grosse Sorgen um ihn», sagt Liuba.

In Palanca angekommen, meldete die ausgebildete Pflegefachfrau sich auf der Gemeinde. Sie wollte so schnell wie möglich Arbeit finden, um ihren Eltern nicht zur Last zu fallen. Sie leben von einer Rente von etwa 350 Franken. Plötzlich für vier Menschen mehr zu sorgen, ist eine finanzielle Herausforderung für sie. Umso glücklicher war Liuba, als sie wenige Tage später hörte, dass Helvetas Helferinnen und Helfer für den Empfang der Kriegsvertriebenen sucht und sie den Job als Koordinatorin erhielt.

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Der 67-jährige Aleksandr erholt sich im Wärmezelt von der Flucht nach Moldawien. © Patrick Rohr
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Liuba empfängt die Flüchtenden und koordiniert ihre Weiterreise. © Patrick Rohr
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Liuba zusammen mit Yevgeniya und ihrer Familie vor den Bussen, mit denen die Geflüchteten in Palanca ankommen. © Patrick Rohr
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Viktoria Sgerya und deren Tochter Alisa (10 Monate) werden von Liuba Mirsa am Helvetas Help Point betreut. © Patrick Rohr
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Rat und Hilfe für die Geflüchteten

Seit Ende März steht sie nun zusammen mit den Brüdern Alexandr und Calin Kostenko jeden Tag vom frühen Morgen bis zum Eindunkeln am Umsteigeplatz in Palanca und empfängt die Flüchtenden, die hier, je nach Kriegsverlauf, in grösserer oder kleinerer Zahl ankommen. Die beiden Brüder kommen ebenfalls aus Palanca, und auch sie wohnen in der Ukraine: im 50 Kilometer entfernten Odessa, wohin sie vor 15 Jahren zusammen ausgewandert sind und je eine Familie gegründet haben. Weil sie Moldawier sind, durften sie das Land verlassen. Zurück in der Heimat, wo sie jetzt mit ihren Familien im Haus ihrer verstorbenen Eltern leben, suchten auch sie so schnell wie möglich eine Arbeit und sind froh, sich dank Helvetas für die Vertriebenen einsetzen zu können.

Diese kommen, wenn sie nicht mit dem eigenen Auto geflohen sind, vom Grenzposten in kleinen Bussen zum Umsteigeplatz, wo Liuba und ihre beiden Kollegen sie zusammen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anderer Organisationen begrüssen und nach ihren Bedürfnissen fragen. Die meisten Geflüchteten wollen so schnell wie möglich weiter – in die moldawische Hauptstadt Chisinau zum Beispiel, wo sie vorübergehend in einem Auffangzentrum aufgenommen werden. Oder in die rumänische Hauptstadt Bukarest, von wo sie ohne grosse Hürden in andere EU- oder in Schengen-Länder wie die Schweiz reisen können. Einige sind froh, wenn sie hier in Palanca eine kurze Pause einlegen und sich verpflegen können. Andere brauchen vor allem etwas Orientierung. «Doch allzu lange können sie hier nicht bleiben», sagt Liuba, «wenn viele Flüchtende gleichzeitig kommen, wird es hier sehr schnell sehr eng, und wir sind auch nicht eingerichtet für Übernachtungen.»

Unterstützung für Gastfamilien

Erfahren Sie hier mehr darüber, wie moldawische Gastfamilien, die Geflüchtete aufnehmen, unterstützt werden.

 

 

Fernunterricht aus der Ukraine

Mittlerweile ist Yevgeniyas Familie bereit für die Weiterreise. Die neun Leute steigen in den Bus nach Bukarest. Yevgeniya, eine Informatiklehrerin, beginnt zu weinen. Sie sorgt sich um ihre Abschlussklasse – 21 Jugendliche, die sie kurz nach Kriegsausbruch zum letzten Mal gesehen hat. «Ich habe keine Ahnung, was aus ihnen geworden ist», sagt sie. «Dabei wollten wir doch den Abschlussball vorbereiten.» Als Klassenlehrerin ist Yevgeniya in der Ukraine so etwas wie eine zweite Mutter für die Schülerinnen und Schüler. Nicht zu wissen, wie es ihnen geht, zerreisst ihr fast das Herz.

 

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«Er verlernt sonst noch das Rechnen - das funktioniert nämlich in Moldawien ganz anders als in der Ukraine, viel komplizierter.»

Liuba Mirsa, 28, Helvetas-Koordinatorin über das moldawische Schulsystem. 

Liuba winkt der Familie zum Abschied nach und besteigt ihr Fahrrad. Um 14 Uhr beginnt der Online-Unterricht, den die Ukraine jeden Nachmittag für die durch den Krieg vertriebenen Kinder auf allen Stufen anbietet. Dafür muss sie dem neunjährigen Roman ihr Mobiltelefon nach Hause bringen, einen Computer hat die Familie nicht. Alle drei Kinder von Liuba sprechen neben Ukrainisch auch Rumänisch, die moldawische Landessprache und Sprache ihrer Mutter. Darum können die beiden Jüngeren, der vierjährige Oleg und die dreijährige Nina, in Palanca in den Kindergarten. Roman besucht hier die dritte Klasse. Trotzdem möchte Liuba, dass er auch den Anschluss im ukrainischen Unterricht nicht verpasst: «Er verlernt sonst noch das Rechnen», sagt sie und lacht, «das funktioniert nämlich in Moldawien ganz anders als in der Ukraine, viel komplizierter. Er bleibt besser beim ukrainischen System, dem vertraue ich mehr.»

Liuba ist überzeugt, dass dieser Krieg bald ein Ende hat und sie mit ihren Kindern wieder nach Hause kann.

So denken die meisten Menschen, die in grösster Not geflüchtet sind und hier in Palanca über die Grenze kommen. Sie haben ihr Zuhause verlassen, weil es nicht mehr anders ging. Ab und zu fahren Einzelne wieder zurück – weil es dort, wo sie herkommen, im Moment ruhig ist. «Wir kommen wieder, wenn es bei uns brennt, aber im Moment nützen wir zu Hause mehr, als wenn wir hier herumsitzen», sagt eine Frau, bevor sie mit ihrer Tochter in einen der Busse steigt, die gleich wieder zurück an die Grenze fahren, um dort neue Kriegsvertriebene aufzunehmen. Menschen, die aus Orten kommen, wo die Bomben fallen.

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Liubas jüngere Kinder Oleg und Nina gehen in Palanca in den Kindergarten. © Patrick Rohr

Mitarbeit und Übersetzung vor Ort: Yevgeniya Inozemtseva, Mitarbeiterin der Deutschen Botschaft in Kiew (zurzeit in Polen).

© Patrick Rohr / Helvetas
Patrick Rohr
Fotojournalist Patrick Rohr hat die Ukraine für eigene Fotoreportagen in den Jahren 2015 und 2019 wiederholt besucht. Er berichtet regelmässig über Helvetas-Projekte in Asien und Afrika.

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Maria Koval  aus Kopyliv | © Helvetas/Lesha Berezovskiy
© KEYSTONE/AFP/EDUARDO SOTERAS

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